11
»Also, in der Zukunft, da hört doch keiner mehr das alte Dampfradio, klar. Oder, wissen Sie, was ich denke? Vielleicht hört das Radio auf uns. Dann sind wir so was wie das Entertainment, die Maschinen sind das Publikum, und uns gehört der Sender, und wir alle arbeiten für die.«
- »Nein, hör zu. Keine Ahnung, was für’n Sci-Fi-Mist der alte Speedy Gonzalez da verzapft hat. Hört sich für mich an, als hätt er sich The Matrix zu oft ausgeliehen. Bei mir, da ist die Zukunft einfach noch nicht angekommen. Alles sieht wie immer aus. Ich mein, is’ doch immer wieder derselbe Scheiß. Alle in denselben Wohnungen, alle kriegen dieselbe Ausbildung, machen in der Freizeit dasselbe, suchen sich dieselben Jobs. Kannste nachprüfen. Wir kriegen dieselben Rechnungen, gehn mit denselben Mädchen aus, sitzen in denselben Gefängnissen; werden schlecht bezahlt, werden schlecht gebumst und schlechtgemacht, stimmt’s? Das ist cor-recto, senor. Und mein Radio? Das hat ’n Abschaltknopf, Daddy-o, und ich stell das Dingen ab, wann immer ich will.« - »Mann, der kriegt’s nicht mit. Der kriegt’s so wenig mit, daß er’s nicht kommen sieht, bis es ihm mitten ins Gesicht springt. Du solltest aufpassen, hermano. Die haben jetzt Maschinen, die laufen mit Essen als Treibstoff, hörst du? Kein Sprit mehr. Die schlucken menschliches Essen wie du un’ ich. Pizza, Chili Dogs, Thunfischpaste, und so. Bald wird Mr. Maschine sich ’n Tisch im Restaurant nehmen. Geben Sie mir den besten Tisch, ungefähr so. Und jetzt sag du mir, wo ist der Unterschied? Wenn’s ißt, ist es lebendig, sage ich. Die Zukunft ist hier, Mann, in diesem Moment, du solltest lieber auf deinen Arsch aufpassen. Jetzt wird Mr. Lebendmaschine bald kommen und sich die Arbeit holen, von der du eben geredet hast, und deine Tussi vielleicht obendrein.« - »He, he, mein paranoider Latino-Freund, Ricky Ricardo, ich hab den Namen nicht verstanden, aber mach langsam, Desi, okay? Hier ist nicht das kommunistische Kuba, von dem du im Gummiboot geflohen bist und vor dem du im Land der Freien Zuflucht gefunden hast ...« »Nun werd nicht gleich beleidigend, bitte. Ich sage bitte, weil ich zur Höflichkeit erzogen wurde, no? Der Bruder hier, wie heißt er noch, Senor Cleef Hoxtaboo’ oder Mr. Taugenichts, vielleicht hat seine Mutter ihn nicht richtig erzogen, aber wir sind hier live auf Sendung, wir sind in der ganzen Metropolitan Region zu hören, also keine Schimpfwörter, bitte.« - »Darf ich da mal unterbrechen? Entschuldigen Sie. Ich höre mir das alles an, und ich denke, sie haben jetzt hier sogar computergesteuerte Fernsehansager und tote Schauspieler, die Autos verkaufen, Steve McQueen persönlich in dem Wagen, also bin ich mehr für unseren kubanischen Freund, die Technik macht mir angst, eh? Und also, in der Zukunft, wird da noch irgend jemand über unsere Bedürfnisse auch nur nachdenken? Ich bin Schauspielerin. Ich arbeite meistens in der Werbung, und da ist dieser große SAG-Streik, und seit Monaten verdien’ ich keinen müden Dollar, aber deshalb wird kein Spot weniger gesendet, weil sie Lara Croft kriegen können, Jar Jar Ginks, sie kriegen Gable oder Bogey oder Marilyn oder Max Headroom oder HAL von 2001.« - »Ich muß Sie jetzt unterbrechen, Ma’am, weil wir keine Zeit mehr haben, und dies ist ein Thema, das vielen Menschen sehr nahegeht. Sie können den technologischen Erfindungen nicht die Schuld an der Bredouille geben, in die Ihre Gewerkschaft Sie gebracht hat. Sie haben den Sozialismus gewählt, die Gewerkschaft hat Ihnen das Bett gemacht, und da hinein müssen Sie sich nun legen. Meine persönliche Ansicht über die Zukunft? Sie können die Uhr nicht zurückdrehen, also schwimmen Sie mit dem Strom, lassen Sie sich von der Woge mittragen. Seien Sie selbst das Neue. Nutzen Sie den Tag. Von einem Ozean zum anderen.«
Professor Malik Solanka, der auf den Stufen des großen Museums saß, übergossen von einem plötzlichen Strahl goldener Nachmittagssonne, blätterte, während er auf Neela wartete, in der Times und fühlte sich mehr denn je wie ein Flüchtling in einem kleinen Boot, gefangen zwischen den auflaufenden Fluten: Vernunft und Unvernunft, Krieg und Frieden, Zukunft und Vergangenheit. Oder wie ein Junge in einem Schwimmring, der zusah, wie seine Mutter im schwarzen Wasser versank und ertrank. Und nach dem Entsetzen und dem Durst und dem Sonnenbrand kam der Lärm, das unaufhörliche, bunt gemischte Stimmengesumm im Radio eines Taxifahrers, das seine eigene innere Stimme übertönte, das Denken ebenso unmöglich machte wie die Möglichkeit zu wählen, wie den Frieden. Wie die Dämonen der Vergangenheit bekämpfen, wenn die Dämonen der Zukunft rings um ihn herum lautstark dröhnten? Die Vergangenheit drängte sich an die Oberfläche; das war nicht zu leugnen. Genauso wie Sara Lear war Krysztof Waterford-Wajdas kleine Ms. Kneif-Arsch in den Fernseh-Listings von den Toten auferstanden. Perry Pincus — sie mußte jetzt, na ja, ungefähr vierzig sein - hatte eine Art Beichte über ihre Jahre als bekanntestes Groupie der Eierköpfe geschrieben, Men with Pens, und Charlie Rose mußte ausgerechnet heute abend mit ihr darüber plaudern. Armer Dubdub, dachte Malik Solanka. Das ist das Mädchen, mit dem du eine Familie gründen wolltest, und nun wird sie auf deinem Grab tanzen. Wenn’s heute abend Charlie ist - »Sagen Sie mir, hatten Sie gar keine Skrupel, bei diesem Projekt, Perry? Als intellektueller Mensch müssen Sie doch ernsthafte Bedenken gehabt haben. Wie haben Sie diese Skrupel überwunden« -, dann wird’s morgen Howard Stern sein: »Kleine Mädchen lieben Autoren. Aber viele Autoren haben dieses kleine Mädchen geliebt.« Halloween, Walpurgisnacht, sie schienen in diesem Jahr tatsächlich zu früh gekommen zu sein. Die Hexen versammelten sich zum Sabbat.
Aber noch eine andere Story drang hinter seinem Rücken an seine wehrlosen Ohren, wieder das Märchen eines Fremden in dieser Stadt. »Ja, es ist großartig gelaufen, Liebling. Nein, keine Probleme, ich bin unterwegs zur Versammlung des Verwaltungsrates, deswegen ruf ich dich von meinem Handy an. Die ganze Zeit bei Bewußtsein, aber ziemlich stark gedopt, sicher. Sagen wir, halb bewußtlos. Ja, das Messer zielt genau auf deine Augen, dank der Chemie aber glaubt man, es sei eine Feder. Nein, keine Kontusionen, und ich sage dir, es ist phantastisch, was in meiner visuellen Welt jetzt los ist. Amazing Grace, ja, das ist gut. War blind, doch jetzt kann ich sehen. Wirklich. Sieh dir all dieses Zeug da draußen an. Es gibt so vieles, das ich verpaßt habe. Stell dir das doch mal vor! Er ist wirklich der Laserking. Wie du weißt, hab ich mich umgehört, und immer wurde mir derselbe Name genannt. Ein bißchen trocken, das ist alles, aber das ist in ein paar Wochen verschwunden, sagt er. Okay, ich liebe dich. Ich werde erst spät zu Hause sein. Was soll ich machen? Warte nicht auf mich.« Und natürlich drehte er sich um, natürlich sah er, daß die junge Frau nicht allein war, daß ein Mann sie betatschte, während sie ihr Handy zuklappen ließ. Sie ließ es sich gern gefallen, dann begegnete sie Solankas Blick; und zuckte, als sie merkte, daß er sie bei der Lüge erwischt hatte, schuldbewußt strahlend die Achseln. Was soll ich machen, wie sie am Telefon gesagt hatte. Das Herz folgt einer eigenen Vernunft, und wir alle sind Sklaven der Liebe.
Zwanzig Minuten vor zehn, in London. Asmaan würde schon schlafen. Fünfeinhalb Stunden später in Indien. Stellt man in London die Uhr auf den Kopf, hat man die Zeit in Malik Solankas Geburtsort, in der Verbotenen Stadt am Arabischen Meer. Auch das kam wieder zurück. Der Gedanke erfüllte ihn mit Angst: vor dem, was aus ihm werden würde, aus ihm, der von seiner lange unterdrückten Wut getrieben wurde. Selbst nach all diesen Jahren bestimmte sie über ihn, hatte nichts von ihrer Macht über ihn verloren. Und wenn er die Sätze jener niemals erzählten Geschichte beendete? ... Diese Frage mußte bis zu einem anderen Tag warten. Er schüttelte den Kopf. Neela verspätete sich. Solanka legte die Zeitung hin, zog ein Stück Holz und ein Schweizer Armeemesser aus der Manteltasche und begann konzentriert zu schnitzen.
»Wer ist das?« Neela Mahendras Schatten fiel auf ihn. Die Sonne stand hinter ihr, und als Silhouette wirkte sie noch größer als in seiner Erinnerung. »Ein Künstler«, antwortete Solanka. »Der gefährlichste Mensch der Welt.« Sie staubte eine Stelle der Museumstreppe ab und setzte sich neben ihn. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie. »Ich kenne viele gefährliche Menschen, und keiner von ihnen hat jemals ein überzeugendes Kunstwerk geschaffen. Und glauben Sie mir, kein einziger von ihnen war aus Holz.« Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, er schnitzend, sie ganz einfach still, der Welt die Gabe ihrer Existenz darbietend. Später sollte sich Malik Solanka, wenn er an ihre ersten gemeinsamen Minuten dachte, vor allem an das Schweigen und die Stille erinnern und daran, wie leicht es ihnen gefallen war. »Ich habe mich in dich verliebt, als du kein Wort gesprochen hast«, erklärte er ihr. »Woher sollte ich wissen, daß du die redseligste Frau von der Welt bist? Ich kenne viele redselige Frauen, und glaube mir, neben dir scheint jede von ihnen aus Holz zu sein.«
Nach einigen Minuten legte er die halbfertige Figur beiseite und entschuldigte sich dafür, daß er so unaufmerksam gewesen war. »Keine Ursache«, gab sie zurück. »Arbeit ist Arbeit.« Sie standen auf, um die große Treppe hinunter - und zum Park hinüberzugehen, und als sie sich erhob, stolperte ein Mann auf der Stufe über ihr und rollte schwer und schmerzhaft ein Dutzend oder mehr Stufen hinab, wobei er Neela auf dem Weg nach unten nur knapp verfehlte; aufgehalten wurde sein Sturz durch eine Gruppe Schulmädchen, die ihm laut kreischend im Weg saßen. Professor Solanka erkannte in dem Mann jenen, der so leidenschaftlich mit der Handy-Lügnerin geschmust hatte. Er sah sich nach Ms. Handy um und entdeckte sie gleich darauf, wie sie zu Fuß Richtung uptown stürmte, während sie immer wieder Taxis heranzuwinken suchte, die bereits besetzt waren und ihren heftig wedelnden Arm ignorierten.
Neela trug ein knielanges, senffarbenes Schalkleid aus Seide. Das schwarze Haar hatte sie sich zum festen Chignon aufgesteckt, und ihre langen Arme waren nackt. Ein Taxi hielt und entließ seinen Fahrgast nur für den Fall, daß sie ein Transportmittel benötigte. Ein Hot-Dog-Verkäufer offerierte ihr alles, was sie wollte, gratis: »Wenn Sie nur hier essen, Lady, damit ich Ihnen dabei Zusehen kann.« Solanka, der hier zum erstenmal die Wirkung erlebte, die ihm Jack Rhinehart so vulgär und wortreich geschildert hatte, bekam das Gefühl, eines der kostbarsten Exponate des Met eine ehrfurchterstarrte Fifth Avenue entlang zu begleiten. Nein: das Meisterstück, an das er dachte, befand sich im Louvre. Wenn eine leichte Brise ihr das Kleid gegen den Körper drückte, sah sie aus wie die geflügelte Nike von Samothrake, nur mit Kopf. »Nike«, sagte er laut und verwirrte sie damit. »Das ist die, an die Sie mich erinnern«, erklärte er ihr. Sie krauste die Stirn. »Ich erinnere Sie an Sportartikel?«
Die Sportartikel hatten dagegen ein Auge auf sie geworfen. Als sie in den Park einbogen, näherte sich ihnen ein junger Mann im Jogginganzug, der durch die Wucht von Neelas Schönheit eindeutig kleinlaut geworden war. Offenbar unfähig, sie anzusprechen, wandte er sich statt dessen an Solanka. »Sir«, stammelte er, »bitte, glauben Sie nicht, daß ich Ihre Tochter anmachen will, das heißt, ich will sie nicht etwa bitten, mit mir auszugehen, oder so, es ist einfach nur, daß sie die wunderbarste, ich mußte ihr einfach sagen -« jetzt sprach er endlich mit Neela -, »einfach sagen, daß Sie die wunderbarste ...« Ein mächtiges Brüllen stieg in Malik Solankas Brust empor. Es täte ja so gut, diesem jungen Mann die Zunge aus dem widerlichen, fleischigen Mund zu reißen. Es täte ja so gut mitanzusehen, wie diese muskulösen Arme aussähen, wenn sie von diesem prachtvoll trainierten Körper gelöst wären. Geschnitten? Gerissen? Wie wär’s, wenn er in etwa eine Million Stücke geschnitten und gerissen würde. Wie wär’s, wenn ich sein beschissenes Herz verschlänge?
Er spürte, wie Neela Mahendras Hand sich ganz leicht auf seinen Arm legte. Die Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Dieser Vorgang, das Aufsteigen und Verfliegen seines unberechenbaren Jähzorns, war so schnell geschehen, daß Malik Solanka sich schwindlig und benommen fühlte. War es wirklich geschehen? War er wirklich kurz davor gewesen, diesem superfitten Kerl die Glieder auszureißen? Und wenn ja, wie hatte Neela seine Wut - diese Wut, die Solanka zuweilen nur bekämpfen konnte, indem er stundenlang in abgedunkelten Zimmern lag, Atemübungen machte und sich rote Dreiecke vorstellte - nur durch eine Berührung dämpfen können? Konnte eine Frauenhand tatsächlich so große Macht besitzen? Und wenn ja (der Gedanke kam ihm unwillkürlich und wollte sich nicht verscheuchen lassen), war dies nicht eine Frau, die er behalten und für den Rest seines von Dämonen heimgesuchten Lebens lieben und ehren müßte? Er schüttelte den Kopf, um derartige Vorstellungen zu vertreiben, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die beiden vor ihm. Neela schenkte dem jungen Jogger ihr strahlendstes Lächeln, ein Lächeln, nach dem man am liebsten sterben würde, weil das gesamte übrige Leben nur noch eine schale Antiklimax sein konnte. »Er ist nicht mein Vater«, erklärte sie dem von ihrem Lächeln geblendeten Träger des Jogginganzugs. »Er ist mein Lebensgefährte.« Diese Information traf den armen Kerl wie ein Hammerschlag; woraufhin Neela Mahendra, um ihre Worte zu unterstreichen, dem immer noch verwirrten Solanka einen langen, nachdrücklichen Kuß auf den unvorbereiteten, aber dennoch dankbaren Mund pflanzte. »Und raten Sie mal«, fuhr sie keuchend fort und holte Luft, um den Coup de grace anzubringen. »Er ist absolut phantastisch im Bett.«
»Was war denn das!« fragte der geschmeichelte und mehr als nur ein bißchen überwältigte Professor Solanka sie benommen, als der Jogger davongetrabt war, wobei er aussah, als sei er drauf und dran, sich selbst mit einem stumpfen Bambusstock den Bauch aufzuschlitzen. Sie lachte, ein lautes, boshaftes, meckerndes Geräusch, neben dem selbst Milas rauhes Gelächter damenhaft klang. »Ich hab gemerkt, daß Sie gleich die Fassung verlieren würden«, anwortete sie. »Und ich brauche Sie hier und jetzt, damit Sie mir zuhören, und nicht im Krankenhaus oder Gefängnis.« Das erklärt etwa achtzig Prozent, dachte Solanka, während sein Kopf allmählich aufhörte, sich zu drehen, erhellt aber nicht die volle Bedeutung dessen, was sie mit ihrer Zunge getan hatte.
Jack! Jack! ermahnte er sich. Das Thema dieses Nachmittags war Rhinehart, sein Freund, sein bester Kumpel, und nicht die Zunge der Freundin seines Freundes, egal wie lang und beweglich sie war. Sie setzten sich auf eine Bank am Teich, und dann liefen rings um sie herum die Herrchen, die ihre Hunde Gassi führten, gegen Bäume, verloren Tai-Chi-Übende das Gleichgewicht, stießen Rollerblader zusammen und marschierten Spaziergänger geradewegs in den Teich, als hätten sie vergessen, daß das Gewässer dort begann. Neela Mahendra ließ sich nicht anmerken, ob sie etwas davon bemerkte. Ein Mann kam mit einer Eistüte vorbei, die aufgrund eines unvermittelten, jedoch begreiflichen Verlustes der Hand-zu-Mund-Koordination seine Zunge verpaßte und statt dessen Kontakt mit dem Ohr bekam, das sie total bekleckerte. Ein anderer junger Mann begann, allem Anschein nach von echten Gefühlen übermannt, beim Vorüberjoggen heftig zu weinen. Nur eine afro-amerikanische Frau mittleren Alters, die auf der Nachbarbank saß (wer bin ich, daß ich vom mittleren Alter rede; sie ist vermutlich jünger als ich, dachte Solanka tief enttäuscht), schien immun gegen den Neela-Faktor zu sein, während sie sich, jeden Bissen mit einem genüßlichen Hmmm oder Ahhh begleitend, durch ein ellenlanges Eiersalat-Sandwich kaute. Neela dagegen hatte nur Augen für Professor Malik Solanka. »Übrigens ein erstaunlich guter Kuß«, sagte sie. »Wirklich erstklassig.«
Sie wandte sich von ihm ab und blickte auf den glitzernden Teich hinaus. »Es ist aus, zwischen Jack und mir«, fuhr sie dann hastig fort. »Vielleicht hat er’s Ihnen schon gesagt. Es ist seit längerer Zeit vorbei. Ich weiß, er ist ein guter Freund von Ihnen, und Sie sollten ihm jetzt ein guter Freund sein, aber ich kann nicht bei einem Mann bleiben, vor dem ich keinen Respekt mehr habe.« Pause. Solanka schwieg. Er rekapitulierte Rhineharts letzten Anruf und hörte jetzt, was ihm entgangen war: den elegischen Unterton bei seinen Sexprahlereien. Den Gebrauch der Vergangenheitsform. Den Verlust. Er drängte Neela nicht, ihm alles zu erzählen. Es muß von selber kommen, dachte er. Sie sagt es mir schon noch. »Was halten Sie von der Wahl?« erkundigte sie sich und begann damit einen ihrer dramatischen Themenwechsel, an die sich Solanka schon bald gewöhnen sollte. »Ich sage Ihnen, was ich davon halte. Ich finde, die amerikanischen Wähler sind es dem Rest der Welt schuldig, nicht für Bush zu stimmen. Das ist ihre Pflicht. Ich will Ihnen sagen, was ich hasse«, ergänzte sie dann. »Ich hasse es, wenn die Leute behaupten, es gäbe keinen Unterschied zwischen den Kandidaten. Dieses Gush-und-Bore-Gerede wirkt so alt. Richtig krank macht es mich inzwischen.« Nicht der richtige Moment, dachte Solanka, um meine eigenen schuldbewußten Geheimnisse einzugestehen. Neela schien jedoch keine Antwort zu erwarten. »Keinen Unterschied?« rief sie empört. »Wie wär’s zum Beispiel mit Geographiekenntnissen? Wie wär’s zum Beispiel, wenn man wüßte, wo mein armes, kleines Heimatland auf der verdammten Weltkarte liegt?« Malik Solanka fiel ein, daß George W. Bush einen Monat vor dem Parteitag der Republikaner während eines Interviews über Auslandspolitik von der hinterlistigen Frage eines Journalisten überrascht wurde: »Angesichts der zunehmenden Instabilität der ethnischen Situation in Lilliput-Blefuscu - könnten Sie uns das Land auf der Karte zeigen? Und wie hieß noch gleich die Hauptstadt dort?« Zwei Slice-Bälle, zwei Treffer.
»Ich werde Ihnen sagen, was Jack von der Wahl hält.« Unvermittelt kam Neela auf das Thema zurück, während mit ihrer Stimme zugleich auch die Röte in ihrem Gesicht zu steigen begann. »Der neue Jack, der Aufsteiger, der Pseudoschwarze, der Truman-Capote-Rhinehart, denkt darüber nach, was seine Cäsaren in ihren Palästen wollen. Spring, Jack, und er springt himmelhoch. Tanz für uns, Jack, du bist ein so guter Tänzer, und er wird ihnen sämtliche altmodischen, dreißig Jahre alten Schritte zeigen, die die alten Weißen so mögen, er wird den swim, den hitch-hike und den walk the dog tanzen, er wird den mash, das funky chicken und die locomotion vorführen - die ganze Nacht. Bring uns zum Lachen, Jack, und er wird ihnen Witze erzählen wie ein Hofnarr. Vermutlich kennen Sie seine Lieblingswitze. Nachdem das FBI Monicas Kleid untersucht hatte, hieß es, sie könnten den Fleck nicht eindeutig identifizieren, weil in Arkansas alle dieselbe DNS hätten. Ja, den fanden sie komisch, die Cäsaren. Stimm für die Republikaner, Jack, du wirst’s nicht kapieren, aber wir möchten einen Schwarzen auf den Knien sehen. Braver Hund, Jack, jetzt lauf und leg dich im Zwinger hinter dem Haus schlafen. Ach, Liebling, würdest du Jack bitte einen Knochen geben? Er ist so süß. Ja, das wird sie, sie stammt aus dem Süden.« Ach so, Rhinehart war also ein böser Bube, dachte Solanka, und er erriet, daß Neela nicht daran gewöhnt war, hintergangen zu werden. Sie war daran gewöhnt, der Rattenfänger zu sein, mit reihenweise Männern, die ihr folgten und die sie hinführte, wo immer es ihr gefiel.
Sie beruhigte sich, sank zurück auf ihrer Bank und schloß ganz kurz die Augen. Die Frau auf der Bank neben ihnen hatte ihr Hero-Sandwich gegessen, beugte sich zu Neela hinüber und sagte: »Kindchen, den Kerl solltest du dir abschminken. Setz ihn heute noch mit seinem Arsch auf die Straße. Du hast es nicht nötig, dich mit ’nem dahergelaufenen Schoßhund abzugeben.« Neela wandte sich ihr zu, als begrüße sie eine alte Freundin. »Ma’am«, sagte sie ernst zu ihr, »in Ihrem Kühlschrank steht Milch, die länger hält als diese Beziehung.« »Kommen Sie, wir gehen«, befahl sie, und Solanka erhob sich gehorsam. Als sie außer Hörweite war, sagte sie: »Hören Sie, ich bin sauer auf Jack, das ist die eine Sache, aber ich habe auch Angst um ihn. Er braucht wirklich einen guten Freund, Malik. Er steckt ziemlich in der Klemme.« Wie Solanka nach dem Anruf erraten hatte, war Rhinehart deprimiert, und nicht nur über den Kollaps seines leicht verderblichen Milchkartons von Liebesaffäre. Die Begegnung mit Sara Lear, aus der ursprünglich ein Artikel über die großen Scheidungen unserer Zeit entstehen sollte, war zu einem fatalen Rückschlag für ihn geworden. Sara hatte sich gegen ihn gewandt, und ihre Feindschaft hatte ihn tief getroffen. Nach dem Verlust des Bungalows in Springs an Bronislawa hatte er eine winzige Hütte mitten auf einem Golfkurs weit draußen in Richtung Montauk Point gefunden. »Sie wissen, wie besessen er von Tiger Woods ist«, sagte Neela. »Jack ist ehrgeizig. Er wird nicht zufrieden sein, bis Nike - die andere Nike, meine ich«, sagte sie, vor unkaschierter Freude errötend, »die Nike, von der er noch nicht genug hat, auch sein Spiel sponsert, bis hin zu seinem Mützenschirm.« Nachdem Rhineharts Angebot für das kleine Haus vom Verkäufer akzeptiert worden war, geschahen zwei Dinge kurz nacheinander. Bei Rhineharts drittem Besuch in der Hütte, zu der ihm der Makler den Schlüssel gegeben hatte, erschien zehn Minuten später die Polizei und befahl ihm, die Hände zu heben. Nachbarn hatten einen Einbrecher auf dem Grundstück gesehen, und das war er. Er brauchte ungefähr eine Stunde, um die Polizisten davon zu überzeugen, daß er kein Einbrecher, sondern ein potentieller Käufer war. Eine Woche später stimmte der Golfclub gegen sein Aufnahmegesuch.
Saras Arm war lang. Rhinehart, für den, wie er sagte, die schwarze Hautfarbe kein Problem mehr war, hatte auf die harte Tour einsehen müssen, daß sie es wohl doch noch war. »Da draußen gibt es einen Club, der gegründet wurde, damit Juden Golf spielen können«, sagte Neela verächtlich. »Diese alten Wasps können stechen. Jack hätte es besser wissen müssen. Ich meine: Tiger Woods mag ja ein Mischling sein, aber er weiß, daß seine Eier schwarz sind.« »Aber das ist noch nicht das schlimmste.« Sie hatten die Bethesda Fountain erreicht. Rings um sie herum noch immer Hälseverrenken und Slapstick-Nummern; sie gingen weiter, bis sie einen Grashang erreichten. »Setzen Sie sich«, sagte Neela. Er setzte sich, und Neela senkte die Stimme. »Er hat sich mit ein paar völlig ausgeflippten Kerlen eingelassen, Malik. Gott weiß, warum, aber er will wirklich zu ihnen gehören, und das sind die dämlichsten, wildesten weißen Jungen, die man sich vorstellen kann. Haben Sie je von einer Geheimgesellschaft namens S&M gehört, die offiziell nicht mal existieren darf? Selbst der Name ist ein schlechter Witz. Single and Male. Ja, ja, Sie hören richtig. Diese Jüngelchen sind völlig überdreht, völlig von der Rolle. Es ist wie mit diesem Symbol mit dem Schädel und den gekreuzten Knochen, das sie in Yale haben, ja? Wo sie so Zeugs kaufen wie Hitlers Schnäuzer und Casanovas Schwanz - nur daß dies nichts mit der Uni zu tun hat und daß sie keine Erinnerungsstücke sammeln. Sie sammeln Mädchen, junge Damen mit gewissen Interessen und Talenten. Sie wären überrascht, wie viele das sind, vor allem, wenn Sie wüßten, welche Spiele man von ihnen erwartet, und ich rede jetzt nicht von Strippoker. Die harte Tour. Peitsche, Sattel, Zaumzeug, schließlich sehen sie vermutlich aus wie ein menschlicher Kutschwagen. Oder, Sie wissen schon, peitsche mich und fessle mich, das ist wunderschön für mich. Reiche Mädchen. Ich schwör’s. Hat die Familie ’ne Pferdezucht, kommt die Erregung, wenn man wie ein Pferd behandelt wird, von selbst, ja? Ich weiß es nicht. Diesen Kids wird so viel Kostbares in den Hintern geblasen ...« Neela kann kaum fünf Jahre älter sein als die toten Mädchen, dachte Solanka... »daß sie sich über nichts mehr freuen können. Immer weiter und weiter müssen sie gehen, um ihren Kick zu finden, weiter von zu Hause, weiter von der Sicherheit weg. Die wildesten Plätze der Welt, die wildesten Drogen, der wildeste Sex. Da haben Sie sie, meine Lucy-Analyse für fünf Cent. Gelangweilte reiche Mädchen lassen zu, daß idiotische reiche Jungen ausgeflippte Sachen mit ihnen anstellen. Und diese idiotischen reichen Jungen können ihr Glück kaum fassen.« Solanka dachte über das Wort Kids nach, mit dem sie schließlich Mitglieder ihrer eigenen Generation beschrieb. Das Wort klang aufrichtig, aus ihrem Mund. Im Vergleich zu, sagen wir, Mila - Mila, sein schuldbeladenes Geheimnis - war sie eine erwachsene Frau. Mila hatte ihre Reize, aber die wurzelten in einer kindlichen Wollust, einer gierigen Launenhaftigkeit, geboren aus derselben Unzufriedenheit mit der eigenen Abgestumpftheit, demselben Bedürfnis, das Extreme auszuloten, darüber hinauszugehen, um herauszufinden, was sie im Hinblick auf Erregung brauchte. Wenn die verbotene Frucht zum täglichen Brot wird, was macht man dann, wenn man Erregung braucht? Glückliche Mila, dachte Solanka. Ihr reicher Boyfriend hatte nicht begriffen, was er mit ihr hätte tun können, und hatte sie laufenlassen. Hätten diese anderen reichen Boys jemals von ihr gehört, wie weit zu gehen sie bereit war, welche Tabus zu ignorieren sie bereit war, hätte sie ihre Göttin sein können, die Kindliche Königin ihres geheimen Kultes. Sie hätte im Midtown Tunnel mit eingeschlagenem Schädel enden können. »Die Unsensiblen und ihre Spiele«, sagte Solanka laut. »Eine Tragödie der Isolierung. Das prüfungslose Leben der Menschen im Elfenbeinturm.« Das mußte er ihr erklären, und war glücklich, als er sie wieder lachen hörte. »Kein Wunder, daß so viele von diesen geilen Gorillas - diese Schnurrbärte, Knüppel und Hengste - hineinwollen, nicht?« Neela seufzte. »Die Frage ist, warum will das Jack?«
Professor Malik spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Jack ist Mitglied in diesem S&M-Club?« fragte er. »Aber sind das nicht die Männer ...« - »Noch ist er kein Mitglied«, fiel sie ihm, getrieben von ihrem Bedürfnis, ihre schreckliche Bürde zu teilen, ins Wort. »Aber er hämmert an die Tür, fleht sie an, ihn einzulassen, der dämliche Bastard. Und das nach dieser bösartigen Scheiße in der Presse. Als ich das erfuhr, konnte ich nicht mehr bei ihm bleiben. Ich werde Ihnen was sagen, das nicht in der Zeitung stand«, ergänzte sie und senkte ihre Stimme noch mehr. »Diese drei toten Mädchen? Die sind nicht vergewaltigt und nicht ausgeraubt worden, stimmt’s? Aber etwas ist ihnen angetan worden, und das ist es, was die drei Verbrechen verbindet, aber die Polizei will nicht, daß es in die Presse kommt, wegen des Nachahmereffekts.« Solanka bekam es langsam wirklich mit der Angst zu tun. »Was wurde ihnen denn angetan?« fragte er schwach. Neela bedeckte ihre Augen mit der Hand. »Sie wurden skalpiert«, flüsterte sie und weinte.
Skalpiert zu werden bedeutete, sogar im Tod noch Trophäe zu sein. Und weil Seltenheit den Wert steigert, könnte der Skalp eines toten Mädchens in der Tasche - das allergrausamste Geheimnis! - tatsächlich mehr Prestige vermitteln als dasselbe Mädchen, lebend und atmend, am Arm auf einem glanzvollen Ball oder sogar als willige Partnerin bei dem, was immer man sich an Sexkapriolen ausdenken mochte. Der Skalp war Zeichen der Herrschaft, und ihn sich zu nehmen, eine solche Reliquie als begehrenswert anzusehen hieß, das Bezeichnende über die Bezeichnete zu stellen. Die Mädchen, begriff Solanka voll empörtem Entsetzen, waren für ihre Mörder tot tatsächlich wertvoller gewesen als lebend.
Neela war von der Schuld der drei Boyfriends überzeugt; und davon überzeugt, daß Jack weit mehr wußte, als er irgend jemandem erzählte, sogar ihr. »Es ist wie mit Heroin«, sagte sie und trocknete sich die Augen. »Er steckt so tief drin, daß er nicht weiß, wie er da rauskommen soll, ja, ob er überhaupt da rauskommen will, obwohl es ihn vernichten wird, wenn er dabei bleibt. Ich frage mich, wozu er bereit ist und wem er etwas antun wird. War ich zum Vergnügen für diese Arschlöcher bestimmt, oder was? Und was die Morde betrifft, wer weiß, warum? Vielleicht sind sie mit ihren kleinen Sexspielchen zu weit gegangen. Vielleicht ist es irgendein Wahnsinnsspiel um Sex und Macht, das diese reichen Boys treiben. Irgendein Ding mit Blutsbruderschaft und Männlichkeit. Bums das Mädchen und bring es um, und zwar so clever, daß du damit durchkommst. Ich weiß es nicht. Vielleicht machen sich nur meine Klassen-Ressentiments bemerkbar. Vielleicht habe ich auch zu viele Filme gesehen. Compulsion. Rope. Wissen Sie? Warum tut ihr so was? Weil wir’s tun können. Weil sie beweisen wollen, daß sie kleine Cäsaren sind. Daß sie hoch über allen stehen, erhaben, gottgleich. Das Gesetz kann ihnen nichts anhaben. Es ist ein so furchtbar mörderischer Mist, aber Mr. Schoßhund Rhinehart bleibt immer weiter loyal. Einen Dreck weißt du über die, Neela, das sind anständige junge Männer. Unsinn. Er ist so blind, daß er nicht sehen kann, wie sie ihn mit sich runterziehen, wenn sie losgehen, oder, noch schlimmer, daß sie ihm womöglich eine Falle stellen. Er wird den Prügelknaben für sie spielen und mit einem Loblied auf den Lippen für sie auf den Stuhl steigen. Jack Shit. Guter Name für dieses Weichei von kleinem Scheißkerl. In diesem Augenblick ist er das nämlich für mich.«
»Wieso sind Sie sich dessen so sicher?« erkundigte sich Solanka. »Tut mir leid, aber Sie hören sich selbst jetzt ziemlich überdreht an. Diese drei Männer wurden vernommen, aber sie wurden nicht verhaftet. Und wie ich hörte, hat jeder von ihnen ein wasserdichtes Alibi für den Zeitpunkt, an dem seine Freundin starb. Zeugen, et cetera. Einer wurde in einer Bar gesehen, und so weiter, ich hab’s vergessen.« Sein Herz hämmerte. Eine Zeitlang, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hatte er sich selbst die Schuld an diesen Verbrechen gegeben. Im Bewußtsein der Verwirrung im eigenen Herzen, dem brodelnden, chaotischen Sturm, hatte er sie mit der Verwirrung der Stadt in Verbindung gebracht und war kurz davor gewesen, sich schuldig zu bekennen. Jetzt stand, wie es schien, seine Entlastung kurz bevor, aber der Preis seiner Schuldlosigkeit konnte die Schuld seines Freundes bedeuten. Ungeheure Turbulenzen tobten in seinem Magen, verursachten ihm Übelkeit. »Und diese Skalpierungen«, zwang er sich, sie zu fragen, »wo in aller Welt haben Sie davon erfahren?«
»O Gott«, klagte sie, das Schlimmste endlich auch noch aussprechend. »Ich hab seinen beschissenen Schrank aufgeräumt. Weiß Gott, warum. Sonst tu ich so was niemals für einen Mann. Dafür bin ich nicht geschaffen. Ich hatte ihn wirklich gern, ich glaube, fünf Minuten lang habe ich mir erlaubt... nun, wie dem auch sei, ich habe für ihn aufgeräumt, und ich habe, ich habe sie gefunden.« Abermals Tränen. Jetzt legte Solanka ihr die Hand auf den Arm, sie schmiegte sich an ihn, umarmte ihn und schluchzte. »Goofy«, sagte sie. »Ich habe sie alle drei gefunden. Diese beschissenen, lebensgroßen Kostüme. Goofy, Robin Hood und Buzz.«
Sie hatte Rhinehart zur Rede gestellt, und er hatte sich furchtbar aufgeregt. Jawohl, aus Spaß hatten sich Marsalis, Andriessen und Medford diese Kostüme angezogen, um ihren Freundinnen aus der Ferne nachzuspionieren. Okay, ja, es war vielleicht ein geschmackloser Scherz, aber das machte sie doch nicht zu Killern. Und sie hatten die Kostüme nicht an den Mordabenden getragen, das war Unsinn: falsche Presseberichte. Aber sie hatten Angst, hättest du das nicht auch, und hatten Jack um Hilfe gebeten. »So ging es weiter, er beteuerte ihre Unschuld, leugnete, daß sein kostbarer Club eine Tarnorganisation für die schlüpfrigen Praktiken der Privilegierten ist.« Neela weigerte sich, das Thema zu wechseln. »Ich hab alles rausgelassen, was ich wußte, halb wußte, ahnte und argwöhnte, mit allem hab ich ihn konfrontiert und ihm erklärt, ich würde nicht aufhören, bis er mir sagt, was los ist.« Schließlich geriet er in Panik und rief: »Glaubst du wirklich, ich bin ein Mann, der abends rausgeht und den Frauen die Haare abschneidet?« Als ich ihn fragte, was das denn nun wieder bedeute, schien er auf einmal Todesangst zu haben und beteuerte, das habe er in der Zeitung gelesen. Der Schlag mit dem Tomahawk. Die siegreichen Krieger und ihre Beute. Aber sie war online gegangen und hatte die Archive aller Zeitungen in der Region Manhattan durchforscht und festgestellt: »Es steht nicht drin.«
Neela wollte mit ihrem Kleid hübsch aussehen und nicht unbedingt warm angezogen sein, und der Nachmittag hatte inzwischen seinen Glanz verloren. Solanka zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die zitternden Schultern. Rings um sie her verblaßten die Farben im Park. Die Welt wurde ein Ort der Schwarz- und Grautöne. Die Kleider der Frauen - atypisch für New York, war es eine Saison der leuchtenden Farben gewesen - wurden matt und monochrom. Unter einem graublauen Himmel bleichte das Grün aus den ausladenden Bäumen. Neela mußte hinaus, aus dieser plötzlich geisterhaften Umgebung. »Gehn wir was trinken«, schlug sie vor, erhob sich und war sofort mit langen Schritten auf und davon. »In der Seventy-seventh gibt es eine ganz ordentliche Hotelbar«, und Solanka ignorierte die inzwischen vertrauten Schocks und Katastrophen, die sie wie Hurrikan-Trümmer in ihrem Kielwasser zurückließ, und eilte ihr nach.
Sie war Mitte der Siebziger in Mildendo geboren, der Hauptstadt von Lilliput-Blefuscu, wo ihre Familie auch jetzt noch lebte. Sie waren girmityas, Nachkommen der allerersten Fremdarbeiter - ihr Urgroßvater hatte damals, 1834, dem Jahr nach der Abschaffung der Sklaverei, einen Dienstkontrakt unterzeichnet, einen girmit. Biju Mahendra, aus dem kleinen indischen Dorf Titlipur, hatte mit seinem Bruder die lange Reise zu dieser Doppelinsel im fernen Südpazifik gemacht. Die Mahendras hatten auf Blefuscu, der fruchtbareren der beiden Inseln und Zentrum der Zuckerindustrie, gearbeitet. »Als eine Indo-Lilly«, sagte sie bei ihrem zweiten Cosmopolitan, »war der Buhmann meiner Kindheit der Coolumber, der groß und weiß war und keine Worte, sondern Zahlen von sich gab und in der Nacht kleine Mädchen fraß, wenn sie ihre Hausarbeiten nicht machten und sich nicht zwischen den Beinen wuschen. Als ich größer wurde, erfuhr ich, daß die Coolumbers die Aufseher über die Zuckerarbeiter waren. Der spezielle Aufseher in meiner Familiengeschichte war ein weißer Mann namens Mr. Huge - eigentlich Hughes, nehme ich an -, der ein Tasmanischer Teufel war und für den mein Urgroßvater und meine Großonkels nur Zahlen auf einer Liste waren, die er jeden Morgen laut verlas. Meine Vorfahren waren Zahlen, Kinder von Zahlen. Nur die eingeborenen Elbees wurden bei ihren Nachnamen gerufen. Wir brauchten drei Generationen, um unsere Familiennamen aus dieser numerischen Tyrannei zu befreien. Bis dahin war das Verhältnis zwischen den Elbees und uns natürlich sehr schlecht geworden. Wir essen Gemüse, sagte meine Großmutter immer, aber die fetten Elbees essen Menschenfleisch. Tatsächlich gab es in Lilliput-Blefuscu früher einmal Kannibalen. Wenn man darauf hinweist, sind sie beleidigt, aber es ist eben so. Und für uns war Fleisch in der Küche eine Verunreinigung. Noch lange klang das Wort Schweinefleisch nach Teufelsbraten.« Wörter für Getränke spielten eine bedrückend große Rolle in ihrer Vergangenheit. Wenn es um Grog, Yaqona, Kava, Bier ging, waren sich die Indo-Lilliputaner und Elbees so einig wie sonst niemals; beide Gemeinden litten an Alkoholismus und den damit verbundenen Problemen. Ihr eigener Vater war ein mächtiger Schlucker, und sie war froh, vor ihm fliehen zu können. Es gab nur sehr wenige amerikanische Stipendien für die jungen Leute in Lilliput-Blefuscu, aber sie gewann eines davon und verliebte sich sofort in New York - genauso wie jeder, der hier eine Heimat fern der Heimat unter den anderen Wanderern suchte, die ganz genau dasselbe wollten: einen sicheren Hafen, in dem sie sich niederlassen konnten. Doch ihre Wurzeln ließen sie nicht frei, und sie litt stark unter dem, was sie als Schuld des leichteren Lebens bezeichnete. Sie war ihrem Saufbold von Vater entkommen, ihre Mutter und Schwestern dagegen nicht. Und auch für die Sache ihrer Landsleute in Lilliput-Blefescu trat sie voller Leidenschaft ein. »Die Paraden sind am Sonntag«, sagte sie und bestellte ihren dritten Cosmopolitan. »Würden Sie mit mir kommen?« Und Solanka - es war bereits Donnerstag - stimmte unvermeidlicherweise zu.
»Die Elbees behaupten, wir seien habgierig, verlangten alles und wollten sie aus ihrem eigenen Land vertreiben. Wir behaupten, daß sie faul sind und daß sie ohne uns nur herumsitzen, nichts tun und verhungern würden. Sie behaupten, daß man von einem weichgekochten Ei nur das kleine Ende aufzuschlagen braucht. Während wir - oder jedenfalls jene von uns, die Eier essen - die Big Endians aus Big Endia sind.« Über ihren eigenen Witz amüsiert, kicherte sie wieder. »Es wird bald Probleme geben.« Es ging, wie so oft, wieder einmal um Land. Obwohl die Indo-Lilliputaner auf Blefuscu inzwischen alle Landwirtschaft betrieben, für den größten Teil der Exporte des Landes verantwortlich waren und daher die meisten Devisen verdienten, obwohl sie erfolgreich waren und selbst für sich sorgen, ihre eigenen Schulen und Krankenhäuser bauen konnten, gehörte der Boden, auf dem das alles stand, noch immer den Eingeborenen, den Elbees. »Ich hasse das Wort Eingeborene«, rief Neela. »Ich bin in der vierten Generation Indo-Lilly. Also bin ich auch eine Eingeborene.« Die Elbees fürchteten einen Coup, eine Revolution mit Landnahme durch die Indo-Lillys, denen die Elbee-Verfassung immer noch das Recht verweigerte, auf den beiden Inseln Grundeigentum zu erwerben; die Big Endians ihrerseits fürchteten das gleiche, nur umgekehrt. Sie hatten Angst, daß die Elbees, wenn im Verlauf des folgenden Jahrzehnts ihre hundertjährigen Kontrakte ausliefen, sich kurzerhand das inzwischen wertvolle Ackerland zurückholen und den Indern, die es bearbeitet hatten, nichts übriglassen würden.
Aber es gab etwas, das die Sache kompliziert machte, wie Neela trotz ihrer ethnischen Loyalität und drei schnellen Cosmopolitans ehrlich eingestand. »Es geht hier nicht nur um ethnischen Antagonismus und nicht einmal um die Frage, wem was gehört«, erklärte sie. »Die Elbee-Kultur ist wirklich ganz anders, und ich verstehe, warum sie Angst haben. Sie sind Kollektivisten. Das Land gehört nicht individuellen Grundbesitzern, sondern den Elbee-Häuptlingen in Vertretung des gesamten Elbee-Volkes. Und dann kommen wir Big Endia-Wallahs mit unserer erfolgreichen Geschäftspraxis, unternehmerischem Scharfsinn, freiem Handel und unserem Profitdenken. Und dann spricht die ganze Welt auch noch unsere Sprache und nicht die ihre. Wir leben im Zeitalter der Zahlen, nicht wahr? Also sind wir Zahlen, und die Elbees sind Wörter. Wir sind die Mathematik und sie die Lyrik. Wir gewinnen, und sie verlieren: Deswegen haben sie natürlich Angst vor uns, es ist wie der Kampf in der menschlichen Natur selbst, der Kampf zwischen dem, was mechanisch und utilitaristisch ist, auf der einen und dem Teil, der liebt und träumt, auf der anderen Seite. Wir alle fürchten, daß das kalte Maschinelle in der menschlichen Natur unsere Magie und unsere Lieder zerstören wird. Also ist der Kampf zwischen den Lillys und den Elbees zugleich der Kampf des menschlichen Geistes, und verdammt noch mal, ich stehe mit dem Herzen vermutlich auf der anderen Seite. Aber meine Leute sind meine Leute, und Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit, und nachdem man sich vier Generationen lang den Arsch abgearbeitet hat und immer noch wie Bürger zweiter Klasse behandelt wird, hat man das Recht, zornig zu sein. Wenn es so weit kommt, werde ich zurückkehren. Wenn es sein muß, werde ich Schulter an Schulter mit ihnen kämpfen. Das meine ich ernst, ich werde es wirklich tun.« Er glaubte ihr. Und dachte: Wie kommt es, daß ich mich in Gesellschaft dieser leidenschaftlichen Frau, die ich kaum kenne, so absolut wohl fühle?
Die Narbe war das Ergebnis eines schweren Autounfalls auf dem Interstate Highway bei Albany; sie hätte fast ihren Arm verloren. Wie Neela selbst zugab, fuhr sie wie eine Maharani. Die anderen Benutzer der Straße sollten Zusehen, daß sie ihr gefälligst den Weg freimachten. In den Regionen, in denen sie und ihr Wagen anzutreffen waren - Blefuscu oder die Umgebung ihres feinen New-England-Colleges -, sprangen die Autofahrer, wenn sie Neela Mahendra kommen sahen, oft einfach aus ihrem Wagen und rannten davon. Nach einer Reihe kleinerer Karambolagen und Beinah-Zusammenstöße kam dann der höchst unkomische große Krach. Daß sie ihn überlebte (und zwar um Haaresbreite), war ein Wunder; daß sie ihre herzzerreißende Schönheit behielt, war noch erstaunlicher. »Die Narbe stört mich nicht«, sagte sie. »Ich kann von Glück sagen, daß ich sie habe. Und sie erinnert mich an etwas, das ich nicht vergessen sollte.«
In New York brauchte sie zum Glück nicht zu fahren. Ihre hoheitsvolle Einstellung - »meine Mutter hat mir immer gesagt, ich sei eine Königin, und ich habe ihr das geglaubt« - bedeutete, daß sie es ohnehin bevorzugte, gefahren zu werden, obwohl sie auch noch ein schrecklicher Beifahrer war, der ständig aufschrie und aufkeuchte. Ihr schneller Erfolg im Fernsehgeschäft ermöglichte es ihr, einen Fahrdienst in Anspruch zu nehmen, dessen Fahrer sich schnell an ihre häufigen Angstschreie gewöhnten. Überdies besaß sie keinen Orientierungssinn und wußte daher - äußerst bemerkenswert für einen New Yorker - niemals, wo etwas war. Ihre Lieblingsgeschäfte, ihre bevorzugten Restaurants und Nightclubs, die Lage ihrer Aufnahmestudios und Schneideräume, die sie regelmäßig aufsuchte: Sie hätten überall sein können. »Da, wo der Wagen hält, sind sie eben«, erklärte sie Solanka beim vierten Cocktail mit großen, unschuldigen Augen. »Es ist verblüffend. Sie sind tatsächlich immer da. Direkt vor der Autotür.«
Freude ist die süßeste Droge. Neela Mahendra lehnte sich in ihrer schwarzen Ledernische an ihn und sagte: »Es macht mir so großen Spaß. Ich hätte nie gedacht, daß es mit Ihnen so schön sein kann, in Jacks Wohnung haben Sie so steif gewirkt, als Sie sich dieses idiotische Spiel angesehen haben.« Ihr Kopf neigte sich seiner Schulter zu. Sie hatte die Haare heruntergelassen, so daß sie von dort, wo er saß, einen großen Teil ihres Gesichts verbargen. Sie ließ den Rücken ihrer rechten Hand langsam über den Rücken seiner linken Hand gleiten. »Manchmal, wenn ich zu viel trinke, kommt sie heraus, um zu spielen, die andere, und dagegen kann ich nichts tun. Sie übernimmt die Kontrolle, und damit hat sich’s.« Solanka war verloren. Sie nahm seine Hand in die ihre und küßte, um ihren unausgesprochenen Pakt zu besiegeln, die Fingerspitzen. »Auch du hast Narben«, sagte sie, »aber du sprichst nie darüber. Ich erzähle dir all meine Geheimnisse, und du sagst kein einziges Wort. Ich frage mich, warum spricht dieser Mann niemals über seinen Sohn? Ja, natürlich hat Jack mir davon erzählt, glaubst du, ich hätte ihn nicht danach gefragt? Asmaan, Eleanor, soviel weiß ich. Wenn ich einen kleinen Jungen hätte, würde ich ständig von ihm reden. Du hast ja offenbar nicht mal ein Foto von ihm bei dir. Ich denke mir, dieser Mann hat die Frau verlassen, die viele Jahre lang seine Ehefrau war, die Mutter seines Sohnes, und selbst sein Freund weiß nicht, warum. Ich denke, er sieht aus wie ein guter Mann, ein freundlicher Mann, nicht brutal, also muß es einen guten Grund geben, vielleicht wird er es mir sagen, wenn ich offen zu ihm bin, aber, Baba, du bleibst einfach stumm. Und dann denke ich, da ist dieser Inder, ein Inder aus Indien, kein Indo-Lilly wie ich, ein Sohn der Heimat, aber das ist offenbar auch ein Tabu-Thema. Geboren in Bombay, aber er schweigt über seinen Geburtsort. Was ist mit seiner Familie? Brüder? Schwestern? Leben die Eltern, oder sind sie tot? Das weiß kein Mensch. Geht er sie jemals besuchen? Anscheinend nicht. Kein Interesse. Warum? Die Antwort muß lauten: weitere Narben. Malik, ich glaube, du hast mehr Unfälle gehabt als ich, und vielleicht hat dir irgend jemand irgendwann sehr weh getan. Aber wenn du nicht reden willst, was soll ich machen? Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Ich kann nur sagen, ich bin hier, und wenn Menschen dir nicht helfen können, dann kann dir gar nichts helfen. Das ist alles, was ich sagen werde. Rede oder rede nicht, du hast die Wahl. Ich amüsiere mich, und außerdem ist jetzt die andere hier, also halte ich den Mund. Ich weiß nicht, warum Männer immer so viel reden müssen, wenn es doch offensichtlich ist, daß Worte nicht notwendig sind. Jetzt überhaupt nicht notwendig sind.«